Gerade hörte ich einen Vortrag von Frau Krone-Schmalz, der eine erstaunliche Nüchternheit aufweist. Im Nachgang stören mich aber zwei Dinge: 1) die Ignoranz gegenüber bestimmten Fakten 2) die Reduktion auf Sicherheitsinteressen.

Ad primum:
Was Krone-Schmalz nur andeutet, ist der Regime Change 2014 in der Ukraine. Das ist ein signifikantes Ereignis und stellt die unmittelbare Vorgeschichte des akuten Konfliktes dar. Darüber hinaus aber gibt es wiederum eine Vorgeschichte und das wäre das eigentlich interessante, nämlich wie Jochen Scholz (Obersteutnant a.D.) betonte, Rebuilding Americas Defenses (2000) sowie The Grand Chessboard (1997). Zu diesen beiden hochgradig relevanten Dokumenten gesellt sich ein drittes, nämlich Extending Russia: Competing form Advantageous Ground (2019). Das alles wird völlig ignoriert. Die Aussage von Krone-Schmalz, beide Konfliktseiten, d.h. Rußland und NATO, würden defensiv agieren, ist vor diesem Hintergrund völlig absurd. Die Wahrheit ist, daß die NATO keine Einheit bildet, sondern das Imperium der Vereinigten Staaten darstellt samt seinen Vasallen. In diesem Kontext spricht andauernd Putin, d.h. von sog. unipolaren Weltordnung. Klartext: Die Amerikaner diktieren. Das Ziel des Konflikts ist eben das: Diese Ordnung, in der Amerika der alleinige Hegemon ist, aufrecht zu erhalten. Die Gründe hierfür sind in den genannten Schriften belegt und jener vielzitierte Vortrag von Friedman aus 2015 hat dies ebenfalls deutlich erörtert: Wenn die Amerikaner nicht intervenieren, dann führt die Entwicklung und die Zusammenarbeit der Staaten zum Schulterschluß zwischen Europa und Asien, d.h. zur eurasischen Wirtschaftszone. Und die hängt die Amerikaner wirtschaftlich ab, insbesondere was die Rohstofflage betrifft. Das gilt es aus Sicht der USA zu verhindern. Der Konflikt in der Ukraine führt am Ende dazu, Europa aus diesem Wirtschaftsraum herauszuhalten. Das Zwischenelement, das die Vorstufe der eurasischen Wirtschaftszusammenarbeit darstellt, ist die Gruppe der BRICS-Staaten. Ihr erklärtes Ziel ist die Aufhebung der unipolaren Weltordnung und die Schaffung einer multipolaren Weltordnung. Das geschieht gerade und das ist das eigentliche geopolitische Thema. Und es wird ausgeblendet.

Ad secundum:
Frau Krone-Schmalz redet von Sicherheitsinteressen der Staaten und bringt den Aspekt der Sicherheitsgarantien ins Spiel, die insbesondere Rußland, aber auch Polen, das Baltikum, usw. betreffen. Diese Sicherheitsinteressen sind zwar gegeben, aber es ist noch nicht alles. Diese Art von Erzählung knüpft an der Kubakrise an, läßt aber jegliche sonstige Fragestellung außer Acht. Für eine bloße Ruhepause des Konfilkts mag dies vielleicht hinreichend sein, doch eine Lösung im Sinne der umgebenden Fragestellungen ist hierbei weder gegeben noch irgendwie benannt. Es geht eben nicht nur um Sicherheitsinteressen.
Putin sprach in diesem Zusammenhang von der regelbasierten Weltordnung. Das ist ein sehr zentraler Aspekt. Während das Sicherheitsinteresse eine militärische Dimension ist, handelt es sich bei der regelbasierten Weltordnung um eine rechtliche Fragestellung und damit ist sich ihrem Wesen nach eine philosophische Fragestellung. Aus meiner Sicht sind das sehr bedeutsame Fragestellungen, die seit 100 Jahren nicht beantwortet wurden. Im Grunde sind das die Probleme, die seit dem Ende des ersten Weltkrieges herumliegen und auf Lösung warten. Ernst Jünger hat das schon im Zusammenhang des Versailler Vertrages benannt, denn damit wurde eine neue Zeit eröffnet, die mit der alten Ordnung gebrochen hat. Zum ersten Mal wurde die Souveräntität eines Volkes nicht anerkannt. Nicht die Deutschen richteten über ihre Herrscher, sondern die Franzosen. Damit ist klar, wer was zu sagen hat. Diese Situation wurde verschärft, da die Franzosen allein nicht diese beanspruchte Rolle aufrecht erhalten konnten. Deshalb mußte eine übergeordnete Instanz hervorgebracht werden, die quasi die Angelegenheiten regeln, also durchsetzen, sollte. Andersgesagt: Jede supranationale Instanz beansprucht die Souveräntität über ein Land oder diese Instanz ist überflüssig. Nun haben die Amerika das Exempel statuiert mit dem Kosovokrieg, daß man nicht an diese Instanzen gebunden ist. Und damit ist diese Ordnung überflüssig geworden. Auch darauf hat Putin verwiesen im Zusammenhang mit dem Beginn des Spezialoperation im Februar '22.

Letztlich führen diese Fragen zur eigentlichen Frage: Woher kommt überhaupt eine Ordnung? Woher kommt Legitimation? Was ist Souveränität? Die Antwort der Neocons ist klar: Darwinism. Der Stärkere hat recht. Es geht also um wirtschaftliche Hegemonie und ein Handeln, das nicht an die Moral gebunden ist. Dagegen steht das Alte Europa, das sog. Abendland, das die Ordnung an Gott festmachte, von dem jegliche Legitimation und Souveränität ausgeht ("Du hättest keine Macht über micht, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre!" Joh 19,11). Klartext: Gibt es eine metaphysische Größe oberhalb des souveränen Nationalstaates, das selbst souverän ist, d.h. nicht abhängig von anderen, etwa den sog. Mitgliedsstaaten?
Bejaht man diese Frage, dann folgt daraus zweierlei: Erstens, die Würde des Menschen gilt unabhängig von jeglichem positiv gesatzen Recht und ist dem Willen jeglicher Personen entzogen. Zweitens, die Demokratie ist eingegrenzt durch jenen Souverän und in diesem Sinne von ihm abhängig. Die Herrschaft ist nicht absolut autonom, sondern nur relativ.

Würde man diesen Fragen nachgehen, dann würde die regelbasierte Weltordnung völlig anders aussehen. Und ich meine, daß das ein Thema ist, was in Rußland Raum hat.

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