In dieser Zeit ist für viele Menschen der Glaube an Gott und insbesondere der Glaube an Christus Jesus eine vernachlässigbare Sache. Religion sei nicht nur eine Privatsache, sondern überhaupt eine irrelevante Sache. Diese Ansicht erlebe ich sehr häufig. Religion ist für ein paar Lacher gut, um als rückständig, naiv oder dumm dazustehen. Doch: Im praktischen Leben zeigt sich das genaue Gegenteil. Der wahrhaft religiöse Mensch hat einen inneren Reichtum, den ihm niemand nehmen kann und der eine Tragfähigkeit hat, die über alle irreligiösen Menschen hinausgeht. Der Christgläubige hat eine Hoffnung, die ihn über alle Härten des Lebens erhebt, die ihm eine starke Zähigkeit verleiht, die ihn weiter gehen läßt, als jede Weltanschauung. Zugleich hat der Christgläubige nicht nur die Hoffnung, die ihn krisensicher macht, sondern die ihm auch ein praktisches Urteilsvermögen an die Hand gibt, das weit über alle technischen und psychologischen Kategorien hinausgeht. Der Christgläubige kennt das innere Leben, die Triebfedern des Herzens, die Komplexität der menschlichen Person, die Ehrfurcht vor der Wirklichkeit. Der Gläubige, wenn er denn wirklich religiös ist, hat eine Realitätsverbundenheit, die weitaus größer als bei allen anderen.
Die erste fundamentale Verbundenheit mit der Wirklichkeit besteht darin, die menschliche Person richtig einzuschätzen. Der Gläubige macht sich keine Illusionen über sich selbst, sondern steht vor der Kümmerlichkeit seiner Existenz. Er weiß sowohl um seine Größe als auch um sein Elend, wie Blaise Pascal es so treffend formuliert. Er weiß, daß der Mensch ambivalent ist: nicht nur gut, nicht nur böse, sondern beides. Dieser Realismus besteht gerade aufgrund seines Glaubens und nicht trotz seines Glaubens. Deshalb ist er weder rückständig noch naiv noch dumm. Er gibt sich weder der Illusion über ihn selbst hin noch über andere. Seine Analysen reichen tiefer als die seiner Zeitgenossen. Er dringt vor bis auf die Tiefenschicht der Existenz. Sein Denken ist nicht nur von dem üblichen Verhalten, den konkreten Problemen bestimmt, sondern erhebt sich gerade darüber, weil in all seinem Denken der gewaltige Horizont des Letztgültigen, Ewigen, Fundamentalen gegenwärtig ist. Der moderne Mensch, von aller Religion getrennt, denkt nicht über die einfachsten Gegebenheiten seines Lebens nach. Für ihn spielt das Essen keine große Rolle. Doch der Gläubige macht ein Tischgebet und erhebt das Essen in einen anderen Bereich. Er kann sogar Fasten, d.h. das Essen zu einem tiefen Thema erheben, was seine inneren Haltungen betrifft. Er diszipliniert seinen Magen, weil er sein Herz diszipliniert. Damit erreicht er bei einem scheinbar banalen Zusammenhang einen tiefen Zusammenhang, der mit seinem gesamten Leben zusammenhängt. - Mag ihn damit auch jemand verlachen! In der mittelbaren Wirkung dieser Praxis zeigt sich seine Überlegenheit. Der Trinker verlacht den Gläubigen solange, bis sein Trinken ihn auffrißt.
Die zweite fundamentale Verbundenheit geht über die realistische Einschätzung hinaus. So sieht der Gläubige die Ambivalenz der menschlichen Person, aber er wird davon nicht überwältigt. Seine Beziehung zu seiner Umwelt wird von der Ambivalenz nicht zerfressen, d.h. der emotionale oder moralische Zustand einer Person bestimmt nicht seine Haltung ihm gegenüber, wie es bei den meisten Menschen vorgeht. Er hat eine innere Lufthoheit, die es ihm ermöglicht, anders zu handeln. So liebt der Gläubige, wo keine Gegenliebe ihm entgegeneilt oder gar Haß regiert. Diese Fähigkeit, über die unmittelbare Erfahrung und Affektivität hinauszugehen und sich von sich aus, als Personenzentrum, anders zu bestimmen, liegt in seinem Glauben begründet. - In vielerlei Hinsicht bringt ihm das Spott ein. Ja, das ist richtig. Denn wer nicht zurückschlägt landet automatisch im Leiden; und das mag niemand erleben, sondern meiden. Die Größe des Menschen, sich über den Leidensdruck zu erheben und ihn für andere auf sich zu nehmen, gibt ihm eine Freiheit, die kein religiöser Mensch erreichen kann. Er wird nicht von den Kräften seines Umfeldes hin- und herbewegt, sondern hat sich davon entkoppelt und läßt sich von Gott bestimmen.
Hier sind wir bei einem zentralen Punkt: Für den modernen Menschen ist das Anhangen an Gott eine Torheit. Er sieht in Gott eine Illusion, einen malignus deus, wie Descartes es hypothetisch formuliert. Die Idee Gottes erscheint als ein Phantasma, das von der Wirklichkeit wegführt und niemals gut ist. Daß Gott gerade das Gegenteil davon ist, also nicht von der Wirklichkeit wegführt, sondern zu ihr tiefer hinführt, kann er nicht glauben. Er sieht das Gottesbild als ein Machtinstrument, was durch social engineering hervorgebracht würde. Der Gedanke, daß der Gottesgedanke gerade das Gegenteil ist, d.h. jeglicher menschlicher Konstruktion entzogen ist, will er nicht wahrhaben. Gott ist absolut, d.h. nicht abhängig von gesellschaftlichen Strömungen und Gedankenwelten. Gerade Gott ist derjenige, an dem alle Versuche, ihn zu einem Machtinstrument zu machen, scheitern. In dem Augenblick, wo dem Menschen bewußt wird, daß Gott dem Menschen entzogen ist und sein Gottesbild nicht von Menschen, sondern von Gott selbst abhängt, verliert alle Skepsis gegenüber Gott ihren Halt. Der Mensch steht dann gerade nicht mehr einem Phantasma gegenüber, sondern dem wirklichsten Sein, dem ens realissimum. Alle Argumente gegen Gott werden vor dem absoluten Gott gegenstandslos, da sie sich niemals gegen Gott selbst richten (können), sondern nur gegen Gottesbilder, die nicht auf Gott zutreffen.
Der Glaube überlebt alle seine Kritiker. Diese Kraft hat nur der Glaube an Christus, der die Welt überwunden hat. Und jeder, der an und mit Christus glaubt, kann auch die Welt mit ihm überwinden. Das ist die Stärke des Glaubens. Niemand kann sie bezwingen, weil niemand Gott bezwingen kann.