Seit den Tagen Max Webers gilt die Sehnsucht des Zuschauers, daß eine komplexe Sache in einen Vortrag von maximal 20 Minuten gepackt werden soll. Die Aufmerksamkeitsökonomie der digitalen Plattformen unterstützt diesen Trend. Gleichsam hat sich das Publikum an das Viertelstundenformat der Tagesschau gewöhnt und wie Dieter Wieland sagte: 30 Jahre Waschmittelwerbung sind nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Die Maxime, die kulturell etabliert ist, neigt zur Vereinfachung und zwar in ihrer gesteigerten Form.
In der Betrachtung einer komplexen Lage ist immer eine Analyse nötig. Die Analyse basiert auf der Wiedergabe der Fakten. Im Grunde: Deutschunterricht mit Wiedergabe, Analyse, Deutung. Dieser Dreischritt wird den Menschen eingeprägt. Es ist klar, daß dieser Prozeß ein Trichter ist. Die Deutung hängt von der Analyse ab und die Analyse wiederum von der Wiedergabe. Quod non est in actis, non est in mundo. Nun ist es aber so, daß bereits der Prozeß von Wiedergabe, Analyse, Deutung selbst komplex ist. Mit dieser Hermeneutik geht der Mensch nicht durch das Leben. Stets geht er deutend durch das Leben und das erste, was er tut, ist eben deuten. Die Wiedergabe ist deshalb ein Schritt hinaus. Sie befreit den Menschen vom ersten Zugang, vom deutenden Verstehen, und richtet auf, was eigentlich tatsächlich passiert. Deshalb bezieht sich der erste Schritt der Vereinfachung darauf, die Wiedergabe zu verhindern und den Menschen in seiner ersten Hinwendung, dem deutenden Verstehen, zu belassen.
In dieser ersten Phase belassen bleibt der Mensch Opfer seiner unmittelbaren Reaktion. Er sieht nicht klar, er durchschaut nicht, ja er gibt nicht einmal sachlich wieder. Sein wertendes Verhalten überlagert die Sachlage. Von der Sachlage getrennt verbleiben im Menschen die Eindrücke. Sie prägen sich ein. Deshalb heißen sie Eindrücke. Es sind die Gefühle, die Assoziationen, die Bilder. Im Hinblick auf eine Nachricht ist das die Überschrift und das Titelbild. Sie sind die Catcher. Sie lösen die erste deutende Reaktion im Menschen aus.
Das erste große deutsche Medium, was die Relevanz des Ersteindrucks erkannt hat, war die BILD-Zeitung. Sie basiert auf diesem Prinzip. Und deshalb funktioniert sie. Sie löst etwas im Menschen auf, prägt ihm etwas ein, verführt ihn geradezu. Im Zeitalter digitaler Medien, d.h. der Aufmerksamkeitsökonomie, ist dieses Prinzip ein Selbstverpflichtung geworden. Niemand kann erfolgreich sein, wenn er nicht nach diesem Prinzip handelt. Und deshalb werden die Nachrichten immer mehr vom Typ BILD.
Das ist übrigens das fundamentale Problem digitaler Medien. Sie haben ein strukturelles Merkmal der Vereinfachung. - Man kann sich die Alternative einmal nach diesem Prinzip vorstellen: Ein Buch, das immer im BILD-Zeitungsstil verfaßt worden ist. Lauter große Überschriften, penetrant, dazu Titelbilder, die auf die Gefühlswelt, die Assoziationsempfänglichkeit und die unmittelbaren Sinneseindrücke abzielt. Wer möchte so etwas lesen? Ein solches Format funktioniert mit dem Buch nicht und deshalb sind die Zahl der Bücher nach diesem Prinzip sehr selten.
Geht man einen Schritt weiter und schaut auf die Wiedergabeebene, was steht im Artikel?, dann erkennen wir innerhalb der digitalen Medien, daß der Leser seine Ersteindrücke nicht schnell genug abschütteln kann. Das erkennen wir an den YouTube-Algorithmen: Die meisten Zuschauer entscheiden innerhalb der ersten Sekunden, ob sie das Video schauen wollen oder nicht. Wann passiert der Abbruch? Entweder sofort oder gar nicht. Die wenigsten Videos werden in der Mitte abgebrochen. So ist es auch mit den Artikeln. Das Versprechen, Überschrift und Titelbild bzw. Videotitel und Thumbnail, muß eingelöst werden. Wird es nicht, dann Abbruch. Der Ersteindruck entscheidet. Das ist der Killer von Komplexität. Um also der Komplexität einer Sache gerecht zu werden, bedarf es mehr als dieses Aufmerksamkeitsmodell. Ja, man muß sich dagegen wehren.
Falls man nun doch auf die Ebene der Wiedergabe gelangt, so sehen wir, wie abhängig das Erfassen der Sachlage von ihr abhängt. Eine Auslassung von Fakten bewirkt eine Vereinfachung. Statt eine Vielzahl von Sachinformationen wird dann eine Geringzahl aufgenommen. Dies ist eine Form der Dekontextualisierung und der Rekontextualisierung: Deframing und Reframing. Wie ein Bild zugeschnitten wird, so auch Sachinformationen. Das verhindert die differenzierte Lagebetrachtung.
Im Zusammenhang mit der Politik ist dieses Defizit, mag es intendiert oder nicht intendiert sein, ein großes Übel. Denn dahinter steht ein Mythos der Moderne: Das Handeln des Menschen wäre methodologisch voraussehbar. Es besteht ein Mythos, der die Vereinfachung auf unerträgliche Weise in sich trägt. Welche Handlungstheorie man auch zugrundelegt: Sie ist falsch. Weder so etwas wie der methodologische Subjektivismus, die rational-choice-theory oder der Behaviorismus können das Handeln des Menschen erklären. Es ist sogar noch schlimmer. Sie können das Handeln nicht einmal adäquat beschreiben. Die Grenze ihrer Instrumentarien sind auch die Grenze dessen, was sie erfassen. Das Handeln des Menschen ist stets mehr als die Theorie darüber. Vergessen wir nicht, daß der Mensch nicht nur eine Außenwelt hat, die beschreibbar ist, sondern auch eine Innenwelt, die sich gerade dadurch auszeichnet, daß sie dem Beobachter entzogen ist. Die Innenwelt des Menschen wird nicht methodisch erforscht, sondern vom Menschen selbst offenbart. Und hier sind Lüge und Betrug im Spiel. Wer kann über die Intentionen eines Menschen Sicherheit erlangen? Wer kann das beurteilen?
Das Handeln also ist für sich genommen komplex und kann nicht mir nichts dir nichts vereinfacht werden. Deshalb hat die Wiedergabe mit der Vorsicht des Historikers vonstatten zu gehen. Dabei können vielleicht Plausibilitäten aufgedeckt werden, aber mehr auch nicht. Übrigens ist das auch der Grund, warum sich die Wiedergabe auf die Außenwelt und die Selbstoffenbarung bezieht. Das ist, was wir erfassen können.
Bei dem Verhältnis von Ersteindruck und Wiedergabe haben wir schon eine Wechselwirkung beobachtet. Und so gibt es auch weitere Wechselwirkungen. Man könnte auch von Rückwirkungen sprechen. Und zwar führt die Analyse immer zu einer Art Beherrschung des Stoffs. Was meint das? In der Schule lernt man beim Lesen, daß man Überschriften für Absätze findet. Sie fassen den Inhalt kurz zusammen. Gleiches geschieht bei der Analyse. Die Analyse ordnet, die Analyse verknüpft, die Analyse trennt. In diesem Sinne ist sie nicht neutral. Sie hängt insbesondere von den Fähigkeiten und dem deutenden Verstehen des Analysten ab. Was der Analyst in seiner Analyse tut, kann schon die Vereinfachung in sich tragen.
Um ein Beispiel zu geben: Statistiken enthalten zunächst Rohdaten. Je nach dem, wie diese Rohdaten in Beziehung zueinander gesetzt werden, kommen unterschiedliche Ergebnisse heraus. Das ist Teil der Analyse. Freilich ist schon die Erhebung der Daten eine Kunst für sich, da Datenreihen ihre eigene Logik haben und die Erhebung nur das erfaßt, was erhoben wird, und nicht das, was nicht erhoben wird. Die gekünstelte Auswahl bestimmter Daten kann daher zu einem naheliegenden Schluß führen, ohne daß die Wirklichkeit diesen Schluß hergibt. Klassische Beispiele nach diesem Muster sind die Arbeitslosenquote und der Verbraucherpreisindex. Doch auch dann wenn die Daten erhoben, auch dann gibt es innerhalb der Analyse Schwierigkeiten. Solche Fälle haben wir bei den Sterbedaten im Zusammenhang mit der Coronapolitik erlebt. So hat etwa Norman Fenton, Professor der Mathematik, auf die all-cause mortality rate im Zusammenhang mit der Harmonisierung der Bevölkerungsstruktur hingewiesen und er kam zu anderen Schlüssen. Ähnlich hat dies Marcel Barz für Deutschland und Schweden aufgezeigt.
Nun hat diese Analyse eine Rückwirkung auf die Wiedergabe eines Sachverhalts. Begriffsfelder, Überschriften, Inhaltsgruppen werden in die Wiedergabe miteingeflochten. Die Ordnungsstrukturen und Sortierungsmechanismen der Analyse wirken auf die Wiedergabe zurück.
Dieser Zusammenhang geht aber noch weiter. Denn die Deutung hängt ja von der Analyse ab und so wirkt nicht nur die Analyse auf die Wiedergabe zurück, sondern auch die Deutung, die auf die Analyse folgt. Das deutende Verstehen wird von der analytischen Deutung beeinflußt. Ersteindruck und Letzteindruck sind in einer Wechselwirkung.
Konkreter wird der Verstehensprozeß einer komplexen Sache, wenn wir auf die angewandten Mittel schauen: In der Analyse werden Kategorien gebraucht und gebildet. Beispiele hierfür finden sich zuhauf. Denken wir etwa an den Gebrauch der politischen Begriffe von rechts und links. Es sind Kategorien, die sowohl angewandt werden, um zu analysieren, als auch Begriffe, die aus der Analyse heraus entstehen. Im ersten Fall geben sie die Vereinfachung vor, im zweiten Fall führen sie zur Vereinfachung.
Nehmen wir ein Gedankenexperiment zur Hand: Man stelle sich fünf beliebige Parteiprogramme vor. Wir nehmen an es sind Vollprogramme. Zu jedem einzelnen Thema liegt also eine politische Position vor. Nun nehmen wir jede einzelne Position und extrahieren sie. Wir nehmen also den Kontext, das Vollprogramm, weg. Dann beurteilen wir die einzelnen Positionen. Dafür benutzen wir eine stupide, wenn auch gängige Methode: Wir definieren fünf Werte und ordnen die jeweilige Position einem Wert zu. Es sind die Werte linksextrem - links - Mitte - rechts - rechtsextrem. - Schon anhand dieser einfachen Methode erkennen wir, daß wohl kaum ein einziges Parteiprogramm insgesamt einem dieser Werte zugeordnet werden kann. Das ist auch nicht möglich, denn es sind ungeordnete Werte und davon kann man keine statistischen Methoden anwenden. Es wäre unsachlich diese Werte in Zahlen von 1 bis 5 zuzuordnen und dann einen Mittelwert oder einen Median zu bestimmen, um dann das Parteiprogramm insgesamt diesem Wert zuzuordnen. Doch genau das geschieht.
Das Gedankenexperiment läßt sich noch verfeinern: Wir nehmen die extrahierten Positionen und mischen sie durcheinander, sodaß ein neues Parteiprogramm entsteht. Diese Parteiprogramme sind dann im Sinne des Experiments fiktiv. Wo würden dann die Parteiprogramme zugeordnet? Hätte das noch irgendeinen Sinn?
Die Etiketten sind ein großes Problem. Sie entdifferenzieren die Sachlage. Das geht eben bis in die Wiedergabe hinein. Es wird in der Berichterstattung niemals auf die Komplexität eines Parteiprogramms eingegangen. Statt dessen legt man sich seine Vokabeln zurecht. Dabei sind sie bedeutungslos. Besonders augenfällig wird dies, wenn die vermeintlich linken Parteien und die vermeintlich rechten Parteien in einer politischen Position übereinstimmen. Hier zerbricht das Etikette. Es offenbart seine Idiotie.
Doch statt die Komplexität zu erhöhen, zurückzukehren zu der eigentlichen Sachlage, werden nun neue Etiketten ersonnen et voilà: Man hat nun die Hufeisentheorie, d.h. daß sich die linke und die rechte Position ähneln, weil die Extreme zum gleichen Wert konvergieren würden. Das ist völliger Unsinn.
Jeglicher Sachverhalt kann nur hinreichend dargestellt werden, wenn er die größtmögliche Differenzierung erlaubt. Es ist deshalb nötig, die Fakten in ihrer Fülle klar und deutlich darzulegen. Was hinderlich ist, muß entfernt werden. Das heißt: Die Ersteindrücke müssen bereinigt werden. Diese Distanz muß hergestellt werden. Erst dann kann die Komplexität entfaltet werden. Daraus folgt aber auch: Die digitale Aufmerksamkeitsökonomie ist kein Raum der Komplexität und daher auch kein Raum für den Diskurs. Es muß andere Wege geben. Das kann auch digital sein, doch muß es einer anderen Logik folgen.
Ein wesentlicher Punkt werden die Bücher sein. Dort geschieht etwas. Wir müssen wieder Wege zurück in die Buchkultur finden. Wir müssen wieder lesen. Gedanken brauchen Entfaltung!
Ein besonderer Punkt, so scheint mir, aber auch die Gesprächsführung: Stammtische sind verrufen. Aber wir brauchen Stammtische. Es muß eine Gesprächskultur wiedererstehen, wo Raum für die Komplexität ist. Die Stichwortsprache muß der differenzierten Betrachtung weichen. Gerade das Gespräch hat die Vorzüge, daß ständig neuer Input und neue Wechselwirkung hinzutritt. Das unterscheidet das Gespräch vom Vortrag.
Damit einher gehen die Bedingungen für ein gelehrtes Gespräch: Vorbereitet sein, belesen, sprachlich ausgereift, zuhörbereit, wohlgesonnen, demütig und offen.